Von St Maurice de Rotherens bis Les Abrets

(St Maurice de Rotherens/Vèrou(Les Abrets), Freitag, 08.05.2015)

Wir stehen nicht nur neben der Mairie, sondern auch neben der Eglise. Französische Kirchen läuten anders. Sie läuten die vollen Stunden zweimal. Sollte man den ersten Durchgang wegen Schlafes nicht voll mitbekommen, so stellt er zumindest das Aufwachen sicher. Beim zweiten ungefähr eine Minute später ist höchste Konzentration sichergestellt, kann die Schläge sicher mitzählen und weiß dann ganz genau wie spät es ist. Ich weiß ganz genau, es ist sechs Uhr. Nachts ruht der Glockenbetrieb. Dem Himmel sei Dank!

Nachdem ruhigen Frühstück ist wieder Sohlenpflege angesagt. Meine Frau hat inzwischen bei Carrefour ein dem Original aus der Pharmacie zumindest funktionell identisches Blasenpflaster gefunden, das die täglichen Verpflasterungskosten von acht Euro auf zwei Euro senkt. Ansonsten ist es schon erstaunlich, wie sich der Körper beim Schließen von Rissen zu helfen weiß.

Guten Mutes mache ich mich auf den Weg zum Campingplatz nach Vèrou. Das heutige Profil scheint vergleichsweise einfach.

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Zunächst geht es gleich wieder abwärts. Aber kein Vergleich zu gestern!

In Gresin gehe ich dann in die Kirche. Vielleicht gibt es hier mal einen Stempel. Den Stempel vergesse ich aber, als mich der indirekt erleuchtete Kirchenraum mit einem sanften Ave Maria mehr als freundlich empfängt. Ich bin wirklich ergriffen. So stelle ich mir ein Tor zum Himmel vor.

Geistig gestärkt cruise ich nun frohen Mutes nach Saint Genix an der Guiers. Übermütig lege ich mich unterwegs noch mit ein paar Hundeungetümern im Vertrauen an, dass sie ihre Besitzer nicht frei laufen lassen würden, falls sie nur halb so aggressiv wären wie sie sich gerade aufführen. Hätte ich mich geirrt, wer weiß, wo ich jetzt wäre. Leider hatte ich nicht die Nerven, ein Foto zu schießen.

Eine offensichtlich geänderte Route führt an der Chappele de Pigneux vorbei. Dort habe ich auch ein Lichtlein geopfert. Ich habe allerdings gewusst, was ich sagen soll, und habe das auch gesagt, wenn auch nicht laut! Der Richtige wird mich schon verstanden haben!

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Triumphal ziehe ich in Genix ein. Hier findet gerade ein Markt statt. Ich haushalte mit meinen Schritten, weshalb ich das Warenangebot nicht genauer inspiziere.

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Die Gicht fördernden Mittel vor einer Boucherie (gegrilltes Hühnchen) hätten mir es beinahe angetan. Ich bin stark und widerstehe. Mein Appetit wurde allerdings angeregt. Ich beschließe deshalb eine Pause im Park hinter dem Rathaus.

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Ich setze mich auf eine Bank, ziehe meine Schuhe aus, packe mein Käsebrot und meinen Apfel aus als ein älteres Ehepaar auftaucht und sich freundlich nickend neben mich auf die Bank setzt. Ihr Blick richtet sich in den mit der Trikolore beflaggten Hinterhof des Rathauses, in dem offensichtlich alles für eine Art Sektempfang vorbereitet ist. Immer mehr Leute sammeln sich in dem Park auffallend feierlich gekleidet. Man kennt sich! Küsschen rechts, Küsschen links! Auffallend viele Veteranen tragen stolz ihre Orden zur Schau! Spätestens als Kinder im Stile der deutschen Kriegsgräberfürsorge um eine Spende bitten, merke ich, dass es sich hier wohl um eine Feier zur Deutschen Kapitulation vor 70 Jahren handelt. Die Leute um mich herum wissen wohl, dass ich Deutscher bin. Sind trotzdem nett und freundlich! Nichteinmal der hochdekorierte Luftwaffenveteran mit drei goldenen Ordensreihen auf jeder Seite der Brust zeigt Ressentiments!

Mein Aufzug ist dieser Veranstaltung nicht würdig. Ich verabschiede mich mit einem durchaus erwiderten „Bonjour“!

Ich verlasse Genix entlang der Guiers, unterquere die Autobahn, und gehe durch einen kleinen Wald in ein Dorf hoch, in dem zwei Wanderinnen gerade nach einer Pause weiterwollen.

„Wia der Hans! Ja, a Lacha wia der Hans! Mei is des sche“ schreit die eine und stürzt auf mich zu, obwohl sie mich zuvor noch nie gesehen hat.

Das ist sie wohl die „Gertraud aus der Oberpfalz“ wie sie sich in den Dankbüchern der Kirchen verewigt hat, die „Holzofenbrotbäckerin aus Vogelthal bei Dietfurt“ von der mir meine Frau schon erzählt hat, die jahrelang das Geschäft meines verstorbenen Bruders mit Gebäck versorgt hat

Auffallend in der kurzen Zeit mit Gertraud ist, dass sie alles fotografiert. „Du kummst fei in mei Fotoalbum!“

Ich mache ein Selfy. „Und Du kummst auf mei Web Page!“. Was hiermit geschehen ist.

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Eine Stunde gehen wir miteinander, suchen nach Gemeinsamkeiten in der Heimat: „Kennst Du den? Kennst den a?“

Wir holen ihre Noch-Weggefährtin Anita ein, die vorausgeeilt war, weil sie mich eher wohl als Störenfried empfand.

Dann trennen wir uns: „Ria de fei! Ehrlich! Ria de fei“, was sich zweifellos einmal ergeben wird.

Im beginnenden Regen gelange ich schnell zum schönen Campingplatz, in dem schon alles für mein Wohlergehen vorbereitet ist.

Von Jongieux bis St Maurice de Rotherens

(Jongieux/St-Maurice-de-Rotherens, Donnerstag, 07.05.2015)

Pünktlich um sechs Uhr schmeißt der Bauer seinen Traktor an und beginnt auf seinem Weinacker gegenüber unserem Schlafplatz mit Giftspritzen. Offensichtlich ist der Savoy kein Bio-Wein. Allein schon vom Hinsehen bekomme ich einen Hustenfall. Kurz überlege ich, ob wir nicht flüchten sollen. Aber der Winzer scheint sich von uns wegzuarbeiten. Gott sei Dank habe ich einen Grund gefunden, noch in meinem Bett zu bleiben.

Zeit genug für meine Sohlen, Blasen zu melden.

Ich mache es mir auf einem Sitz bequem. Das bewährte Operationsbesteck in Form einer Sicherheitsnadel liegt bereit. Mit einigen Verrenkungen gelingt eine Sicht auf die Sohlen. Am rechten Fuß schaut es ganz gut aus: nach dem Aufstechen wird sich die Haut wieder anlegen, Pflaster drauf, und alles ist gut. Am linken Fuß schaut es nicht mehr so gut aus: eine Blase weitet sich über den ganzen Zehenballen über einer anderen. Es ist ein Genuss, beim Aufstechen das Wasser in einer hohen Fontaine spritzen zu sehen. Was überbleibt ist etwas runzliges, das sich beim Gehen immer schön hin und her verschieben wird. Darüberhinaus sind auch die zwei kleinen Zehen befallen. Bei einer ist sogar schon die Oberhaut weggerißen und die Unterhaut sichtbar. Das wird bei Kontakt brennen. Als Wehrpflichtiger bei der Bundeswehr der Paradefall für vierzehn Tage Innendienst!

Mit Blasenpflaster und handwerklichen Geschick kriegt das meine Frau schon in den Griff. Es wird Zeit, dass sie endlich aus den Federn kommt und alles abklebt und stabilisiert. Nach einer Nachoperation zum während des Frühstücks wieder angesammelten Blasenwasser gelingt dies aus. Zumindest habe ich beim Auftreten keine Schmerzen.

Dann starte ich nach Saint-Maurice-de-Rotherens. Der steile Talabstieg gleich zu Beginn und die dabei auftretenden Scherrkräfte sind natürlich für den Pflasterhalt nicht von Vorteil.

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Über Jongieux-le-Haute geht es im schrägen Morgenlicht durch die Weinberge zur Chapelle Saint Romain. Über die Skulpturen kann man sich streiten …

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… der Ausblick hinter der Kapelle über das Rhonetal ist in der Tat nur eines: einmalig.

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Dort muss ich nun hinunter. Es ist rutschig: immer die Gefahr plötzlich mit dem Allerwertesten auf einem spitzen Stein zu landen! Es ist steil: ständig die Knie in den Kehren verdrehen! Die nassfeuchte Kühle unter dem Laub lässt mich nicht auf Touren kommen. Außerdem habe ich schon wieder Steine in meinen Schuhen. Körper und Kopf habe keinen Bock. Morgen mache ich Pause!

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Unten in der Ebene geht es der Rhone entlang. Pfützen, tiefer Morast und verdreckte Brennnessel hellen meine Stimmung nicht auf. Ich will Sonne, Licht, Rosen und den Duft von Flieder.

Ich bin hungrig und müde. Ich will essen und schlafen. Aber Yenne ist noch weit und noch nicht einmal ein Viertel des heutigen Pensums liegt hinter mir.

Dort ein Wunder: eine Bank umrundet von gepflegten Grün steht auf dem trockenem Pflaster eines ruhigen Platzes im warmen Sonnenlicht! Fliederduft! Schuhe runter! Brotzeit raus! Der richtige Platz für die Mittagspause!

Eine frühlingshaft bekleidete jüngere Französin kommt aus einer Gasse, schaut sich kurz um, setzt sich nach Zurechtrücken ihres Röckchens die langen Beine überschlagend auf eine kniehohe Mauer mir schräg gegenüber! Olala, ich vergesse fast das Kauen.

Eine gewiße Spannung liegt für kurze Zeit in der Luft, dann taucht eine weitere Frau auf nicht weniger ansehnlich und plaziert sich in einem gewißen Abstand neben sie. Was ist denn hier los?

Ich stehe durchaus unter Beobachtung als eine Mutter schon wieder schwanger mit zwei kleinen Kinder auftaucht, diese neben mich auf die Bank setzt und sich freundlich lachend, direkt vor mich stellt. Wo bin ich denn hier gelandet?

Genau das ist die Frage! Dezent drehe ich den Kopf und bemerke ein Gebäude hinter mir, vor dem die blaue Europaflagge mit den gelben Sternen und die französische Trikolore wehen. Als noch mehr Personen mit dem Blick dorthin gerichtet stehen bleiben, dämmert langsam, dass ich hier wohl vor einem Kindergarten sitze. Der ganze Auftrieb dient wohl dem Abholen der Kleinen. Bevor diese herauskommen und unter lautem Gejohle mit den Fingern auf mich zeigen mache ich mich schön langsam aus dem Staub bzw auf den Berg.

Beim Studieren einer Infotafel wird mir erst vor Ort bewusst, dass ich über den Mont Tournier soll. Hätte ich das vorher gewusst, was ich zweifellos hätte können, wäre schon heute der Pausentag. Aber wie einer sagte: „Der Jakobsweg ist wie eine Wundertüte: hinter jeder Ecke eine Überraschung“.

Den initialen Anstieg auf den großen Felsen nehme ich gelassen. Anstiege suggerieren, man hat etwas erreicht.

Trotzdem bin ich oben nicht offen für die Ausblicke auf dem Weg. Schon genug geblickt! Ich habe keine Lust auf die Aussichtsfelsen, die ein paar Meter vom Hauptweg abliegen. Schon wieder ein Umweg!

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Trotzdem bin ich oben nicht offen für die neue, nun mehr mediterrane Flora! Immerhin setzt der Ginster ein paar gelbe Farbpunkte ins Grün!

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So macht das keinen Sinn! Es kann nicht sein, eine so schöne Tour zu laufen, nur das sie gelaufen ist! Statt auf das GPS zu schauen und zu sagen: „Was? Erst soviel gegangen!“ werde ich sagen: „Oh! Schon soweit!“. Ich habe alle Zeit der Welt.

Den Abzweig zum nächsten Aussichtfelsen lasse ich dann nicht rechts liegen. Ich nehme die hundert Meter Umweg in Kauf! Ich habe schon lange nicht mehr soviel von einem Ort aus gehen wie von dort! Zudem ist dort eine Bank! Mit dem Rucksack als Kopfkissen lege mich dorthin. Der Strohhut dunkelt mein Gesicht ab und ich schlafe sofort ein. Erst ein leichter Sonnenbrand am Arm lässt mich wieder aufwachen.

Die Strecke bis kurz vor den Mont Tournier ist wellig auf hohem Niveau. Der Aufstieg zu einer Art Pass braucht dann schon noch die letzten verbliebenen Körner. Psychisch ist das verkraftbar, weil Saint Maurice leicht abfallend ohne steilen Abstieg erreicht wird.

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Zehn Minuten zum Gipfel sind mir dann doch zuviel. Freilich komme ich nach zwanzig Minuten wieder zu einem Schild mit zehn Minuten zum Gipfel. Daraus lässt sich folgern, dass die Route auch über den Gipfel ohne Umweg hätte führen können. Der geneigte Leser möge dies selbst als kartographische Übungsaufgabe nachvollziehen.

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Der merkwürdige Steinkopf ist in jedem Fall sehenswert. Es ist nicht bekannt, ob Druiden ihn als Altar bei keltischen Opferritualen benutzten. Allerdings soll er zur Pionierzeit der drahtlosen Telegrafie Aufhängepunkt einer Langwellenantenne über den Mont Tournier gewesen sein. Der geneigte Leser möge dies im Museum in Saint-Maurice überprüfen.

Am Ortseingang von Maurice erwartet mich pünktlich meine Frau. Sie hat es nicht nur geschafft, den Ort zu finden, sondern die Gite d’Etape Mobile durch die engen Straßen vor die Mairie zu chauffieren. Der Bürgermeister hat nichts dagegen. In der Heimat ein Skandal!

Dazu hat sie ein halbes Hähnchen mitgebracht. Mittlerweile mehr kalt als warm, genieße ich es wie ich noch nie ein Hähnchen genossen habe! Das erste Fleisch seit Ostern!

Die Kraft schießt in meine Glieder! Morgen gehe ich weiter.