Von Livinhac bis Figeac

(Livinhac/Figeac, Mittwoch, 28.06.2017)

In Livinhac regnet es nach einem Gewitter die ganze Nacht. Es kühlt merklich ab. Am Morgen mache ich mich mit dem Regenschirm im Rucksack auf nach Figeac.

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Zwischen dem Campingplatz und der Ortschaft steht der Pfeiler einer ehemaligen Eisenbahnbrücke über den Lot, die gegenüber in einen Tunnel führte. Muß mal schauen, warum diese gebaut wurde und warum sie wieder aufgegeben wurde. Hier gibt es eine Menge Eisenbahnstrecken außer Betrieb.

Gestern zuletzt ein Abstieg! Dann heute logisch wiederein  moderater Aufstieg zum Beginn hinter Livinhac.

Das Wetter weiß nicht, was es will: regnen oder nicht regnen. Es fängt zu tröpfeln an, ich spanne den Regenschirm auf, und es hört wieder auf. Der Stiel des Schirms ist zu kurz. Damit balanziert er nicht selbst auf meinen Schultern. Ich muss ihn in der Hand tragen. Und das nervt! Letzten Endes verzichte ich auf ihn. Das wenige Wasser kann ich auch so ab.

In Montedon ist dann der erste Gipfel erreicht. Ich will mir die Kirche anschauen. Doch sie ist verschlossen.

Leicht abfallend geht es weiter nach Guirande. Wieder eine alte kleine Kirche! Diesmal an einem Friedhof! Dort wird sogar gebetet. Ich kann mir keinen Reim auf den Anlass machen. Doch es gibt Eau potable. Grund genug eine kleine Pause zu machen.

Dann führt der Weg durch eine kleine Niederung. Durch die Niederschläge der vergangenen Nacht ist er sehr morastig. Ich bin zu faul, einer Pfütze  auszuweichen, die eigentlich keine Pfütze ist, sondern eine Mischung aus mehr Sand als Wasser. Ich versinke doch tatsächlich bis an die Waden in dem Dreck und bekomme nur mit Ach und Geplätscher wieder festen Grund unter meinen Füßen. Meine dünnen über die Stiefel gestülpten Anzugssocken verhindern aber das Eindringen des Wasser-Sand-Gemisches.

Über einen Stausee führt der Weg mit Umleitungen nach St.Felix. Hinter der Kirche rufen plötzlich Vroni und Thomas. Hätte ich doch glatt übersehen! Auf jeden Fall ein Grund, eine Pause zu machen!

Im Laufe der Unterhaltung wird klar, dass ich höchsten noch eine oder zwei Etappen machen kann, um rechtzeitig wieder zuhause zu sein. Vroni und Thomas wollen einen Umweg über Rocamadour machen mit der in eine Felswand gebauten Kirche und einer Schwarzen Madonna, die im sogenannten Himmel auf der höchsten Ebene, hin-und-wieder für Wunder sorgt. Sie haben mich neugierig gemacht.

Vroni will nicht mir gehen, ihr ist meine Gangart zu stressig. Einmal ein Kilometer reicht! Da muss ich wieder mein Leben in Einsamkeit fristen.

Wahrscheinlich aber nicht lange! Denn bald nach den beiden taucht immer Sara auf nach den Gesetzen von Abmarschzeit, Gehgeschwindigkeit und Pausen. Und so ist es auch!

Mit ihr lege ich nun die letzten paar Kilometer bis Figeac zurück. Die Friedhöfe mit ihren mediterranen Gruften führen zu einem längeren Exkurs über Techniken und Ritualen bei Bestattungen. Sara ist entsetzt, wie ich mir meine letzten Tage auf dieser Erde und mein Schwinden von diesem Planeten vorstelle. Da doziert sie lieber über Junglandwirte und ihrem Hang zu überdimensionalen Traktoren, die dann eigentlich nur dazu dienen, im Faschingszug zu zeigen, wer der größte ist im Land.

In Figeac ziehen sich die letzten Meter an einer vielbefahren Straße mit Kreuzungen entlang. Das An-den-Ampeln-warten-Müssen nervt.

Endlich geht es über den Lot in den schönen mittelalterlichen Altstadtkern. Der abschließende Besuch in der Kirche ist mittlerweile festes Ritual. Sara geht in ihre Gite und ich suche meinen Campingvan. Eigentlich gehen wir davon, dass wir uns in den nächsten Tagen wie in den Tagen zuvor schon irgendwie wieder sehen.

Dem ist aber nicht so. Denn abends beschließe ich, den ganzen morgigen letzten Tag vor der Rückfahrt allein mit meiner Frau als kleines Zeichen des Danken für ihren selbstlose Unterstützung in den letzten Tagen zu verbringen. Wir werden nach Rocamadour fahren, Kaffee trinken, Kuchen essen, die Höhle von Padirac besuchen, Eis essen, über Preise schimpfen, unfreiwillig Kalbsbries oder Stierhoden genießen und uns freuen, wie schön hier Frankreich ist.

Ich freue mich schon auf das nächste Jahr, an gleicher Stelle, fast zur gleichen Zeit, wenn es weiter geht auf der Via Podiensis.

Von Conques bis Livinhac

(Conques/Livinhac, Dienstag, 27.06.2017)

„Das Konzert abends in der Kirche ist sehr schön gewesen“, sagt mir später jemand. Ärgerlich! Und woher soll ich auch wissen, dass jeden Abend eines statt findet.

So habe ich mich am Nachmittag hingesetzt, und empfinde das als eine sehr kurzweilige Tätigkeit, die Gedanken an ein nochmaliges Aufsuchen der Sehenswürdigkeiten schnell verfliegen lassen.

Dafür schlafe ich dann morgens länger und breche wieder relativ spät nach Livinhac auf.

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Der Mensch ist trotz aller gegenteiliger Erfahrungen optimistisch: jeden Tag bin ich der Meinung, dass es heute einmal nicht steil einen Berg hochgehen wird. Und wenn es dann doch sein muss, dass es nicht  auf der anderen Seite wieder abwärts geht. Und umgekehrt!

Gestern geht es zum Schluss steil bergab. Ich bin voll überzeugt, dass es jetzt mit dem Auf-und-Ab getan ist. Dann holen einen die Tatsachen ein, und es steht eine Wand mit ein paar hundert Höhenmetern vor einem, die es jetzt zu erklimmen gilt. Machen wir halt so weiter wie wir gestern aufgehört haben. Steigen wir also zur Kapelle gegenüber Conques hoch und hoffen wir, dass es dann nicht gleich wieder runter geht.

Zwar ist es noch nicht ganz geschafft. Aber der Rückblick auf Conques ist schon mal ganz gut!

Heute trügt die Hoffnung nicht gänzlich. Denn oben angekommen geht es relativ eben bis nach Fonteilles in einem landwirtschaftlich geprägten Ambiente. Auf den Weiden gibt es hier sogar reine Bullenherden. Jens, der Gourmet, will einen nicht nur dort hinter dem Zaun, sondern auch auf der Straße vor ihm gesehen haben.

In Fonteilles ist ein Aire. Alle Wanderer, die seit Tagen durch den gemeinsame tägliche Etappenziel verbunden sind, finden sich hier zum ersten Mal gemeinsam an einem Ort. Die meisten wollen sich das relative späte Frühstück in der Abtei von Conques nicht entgehen lassen, was zu einer Konzentration der Abmarschzeiten führt. Alle relaxen, nur Veronique treibt schon wieder zum Aufbruch. Und wenn ihre momentanen Kumpaninnen Saundrine und die Frau mit der tiefen Stimme ähnlich dem Bass des Donkosakenchor nicht sofort aufspringen, dann geht sie halt alleine. Sie stöhnen, aber sie springen.

Bei mir dauert das noch eine Weile. Käsebrot essen! Apfelschorle trinken! Schinkenbrot essen! Apfelschorle trinken! Banane essen! Apfelschorle trinken! Und als besonderes Highlight ein Croissant mit Schokoladenfüllung! Stiefel ausziehen, Steinchen entfernen, Stiefel anziehen! Abfall wegräumen! Wasserflasche auffüllen! Spende für Aire geben!

Dann folge ich der Karawane Richtung Westen. Langsam fällt der Weg nach Decazeville ab.

Hinter einer Kehre bei La Combe liegen Thomas und Vroni unter  schattigen Bäumen im Gras. Zwei Tage haben wir uns nicht gesehen. Um so lauter ist die Begrüßung. Vroni hat jetzt ein Nutellaglas. Offensichtlich hat die Schilderung meiner Frühstücke Begehrlichkeiten geweckt. Jens, der Gourmet, gesellt sich dazu. Er steht nicht auf Nutella, sondern auf Lyoner Salami, die er aus der Hosentasche zieht, und nun in kleinen, dünnen Scheiben verzehrt. Thomas und Vroni sind für lange Pausen bekannt. Da kann man nicht warten. Schnell nehme ich das letzte Stück nach Decazeville in Angriff.

„Die Stadt ist hässlich“, steht im Reiseführer. Finde ich aber gar nicht. Etwas viel Verkehr, etwas laut, aber bestimmt keine graue Bergarbeiterstadt.

Vor dem Aufstieg nach Livinhac versammelt sich die ganze Truppe und viele andere bisher noch nicht Gesehene am Rastplatz mit Eau Potable und schattiger Sitzgelegenheit zu einem Massenstau. Obwohl direkt neben einer viel befahrenen Straße mit vielen Lastkraftwagen scheinen sich hier alle recht wohl zu fühlen. Viel Gelächter. Internationales Sprachgewirr! Sind ja nur noch ein paar Kilometer.

Selbst Veronique hält es überraschend lange aus, bricht aber natürlich als erste auf. Ihre zwei Kumpaninnen hecheln hinterher.

Nach einiger Zeit und einer Banane starte ich mit Sara zum finalen Showdown. Schnell zeigt sich, das unser Gang am Berg nicht kompatibel ist. Schnell ist eine Lücke enstanden.

Der nächste ist Jens. Wir kokettieren  im Vorbeigehen unser Leid mit der Steilheit des Berges und der Hitze.

Mir geht es aber super. Das ist schon unheimlich: Gute Beine! Keine Blasen! Arscherl brummt: „Wenn das Arscherl brummt, ist das Herzerl g’sund.“ Von Tag zu Tag fitter! Bei aller Bescheidenheit und Demut fühle ich einen Hauch von Unsterblichkeit. Gerade weil ich weiß, es ist keine Selbstverständlichkeit.

Vorne taucht nun Saundrine im schwankenden Schneckengang auf. Schnell bin ich bei ihr! Hochrotes Gesicht! Sie schaut nicht wirklich froh, sie leidet sehr. Kurz verlangsame ich meinen Schritt, dann sagt sie: „Don’t wait for me!“. Dann gibt es heute also keine Gebetserhörung wie vor einer Woche. Ihren Stock hat sie übrigens auch nicht mehr.

Immer wieder ein Paar Pilger, die ich bisher nicht gesehen haben. Am Berg kommt man sich näher, oder man entfernt sich.

Die Französin mit der tiefen Stimme hat abgeschaltet und ist fokussiert auf das Schritthalten mit  dem vorgegeben Takt ihrer Nordic Walking Stöcke.

Langsam schleiche ich mich an Veronique heran. Ich tippe leicht auf ihre rechte Schulter, sie guckt nach rechts, und ich gehe dann links an ihr mit einem „Nice to see you again “ vorbei. Sie ist sichtlich über mein Erscheinen überrascht: „Are you jogging?“. „No, it is the mysterious force of your attraction!“, gebe ich zurück. Ich vermeide bewusst „Attractiveness“. Obwohl so unattraktiv ist sie beim zweiten Hinschauen nicht.

Das war es dann! Niemand mehr bis Livinhac! In gewißer Weise eine Abschiedstour! Bis auf Sara werde ich niemanden wiedersehen.