Von Conques bis Livinhac

(Conques/Livinhac, Dienstag, 27.06.2017)

„Das Konzert abends in der Kirche ist sehr schön gewesen“, sagt mir später jemand. Ärgerlich! Und woher soll ich auch wissen, dass jeden Abend eines statt findet.

So habe ich mich am Nachmittag hingesetzt, und empfinde das als eine sehr kurzweilige Tätigkeit, die Gedanken an ein nochmaliges Aufsuchen der Sehenswürdigkeiten schnell verfliegen lassen.

Dafür schlafe ich dann morgens länger und breche wieder relativ spät nach Livinhac auf.

Download GPX

Der Mensch ist trotz aller gegenteiliger Erfahrungen optimistisch: jeden Tag bin ich der Meinung, dass es heute einmal nicht steil einen Berg hochgehen wird. Und wenn es dann doch sein muss, dass es nicht  auf der anderen Seite wieder abwärts geht. Und umgekehrt!

Gestern geht es zum Schluss steil bergab. Ich bin voll überzeugt, dass es jetzt mit dem Auf-und-Ab getan ist. Dann holen einen die Tatsachen ein, und es steht eine Wand mit ein paar hundert Höhenmetern vor einem, die es jetzt zu erklimmen gilt. Machen wir halt so weiter wie wir gestern aufgehört haben. Steigen wir also zur Kapelle gegenüber Conques hoch und hoffen wir, dass es dann nicht gleich wieder runter geht.

Zwar ist es noch nicht ganz geschafft. Aber der Rückblick auf Conques ist schon mal ganz gut!

Heute trügt die Hoffnung nicht gänzlich. Denn oben angekommen geht es relativ eben bis nach Fonteilles in einem landwirtschaftlich geprägten Ambiente. Auf den Weiden gibt es hier sogar reine Bullenherden. Jens, der Gourmet, will einen nicht nur dort hinter dem Zaun, sondern auch auf der Straße vor ihm gesehen haben.

In Fonteilles ist ein Aire. Alle Wanderer, die seit Tagen durch den gemeinsame tägliche Etappenziel verbunden sind, finden sich hier zum ersten Mal gemeinsam an einem Ort. Die meisten wollen sich das relative späte Frühstück in der Abtei von Conques nicht entgehen lassen, was zu einer Konzentration der Abmarschzeiten führt. Alle relaxen, nur Veronique treibt schon wieder zum Aufbruch. Und wenn ihre momentanen Kumpaninnen Saundrine und die Frau mit der tiefen Stimme ähnlich dem Bass des Donkosakenchor nicht sofort aufspringen, dann geht sie halt alleine. Sie stöhnen, aber sie springen.

Bei mir dauert das noch eine Weile. Käsebrot essen! Apfelschorle trinken! Schinkenbrot essen! Apfelschorle trinken! Banane essen! Apfelschorle trinken! Und als besonderes Highlight ein Croissant mit Schokoladenfüllung! Stiefel ausziehen, Steinchen entfernen, Stiefel anziehen! Abfall wegräumen! Wasserflasche auffüllen! Spende für Aire geben!

Dann folge ich der Karawane Richtung Westen. Langsam fällt der Weg nach Decazeville ab.

Hinter einer Kehre bei La Combe liegen Thomas und Vroni unter  schattigen Bäumen im Gras. Zwei Tage haben wir uns nicht gesehen. Um so lauter ist die Begrüßung. Vroni hat jetzt ein Nutellaglas. Offensichtlich hat die Schilderung meiner Frühstücke Begehrlichkeiten geweckt. Jens, der Gourmet, gesellt sich dazu. Er steht nicht auf Nutella, sondern auf Lyoner Salami, die er aus der Hosentasche zieht, und nun in kleinen, dünnen Scheiben verzehrt. Thomas und Vroni sind für lange Pausen bekannt. Da kann man nicht warten. Schnell nehme ich das letzte Stück nach Decazeville in Angriff.

„Die Stadt ist hässlich“, steht im Reiseführer. Finde ich aber gar nicht. Etwas viel Verkehr, etwas laut, aber bestimmt keine graue Bergarbeiterstadt.

Vor dem Aufstieg nach Livinhac versammelt sich die ganze Truppe und viele andere bisher noch nicht Gesehene am Rastplatz mit Eau Potable und schattiger Sitzgelegenheit zu einem Massenstau. Obwohl direkt neben einer viel befahrenen Straße mit vielen Lastkraftwagen scheinen sich hier alle recht wohl zu fühlen. Viel Gelächter. Internationales Sprachgewirr! Sind ja nur noch ein paar Kilometer.

Selbst Veronique hält es überraschend lange aus, bricht aber natürlich als erste auf. Ihre zwei Kumpaninnen hecheln hinterher.

Nach einiger Zeit und einer Banane starte ich mit Sara zum finalen Showdown. Schnell zeigt sich, das unser Gang am Berg nicht kompatibel ist. Schnell ist eine Lücke enstanden.

Der nächste ist Jens. Wir kokettieren  im Vorbeigehen unser Leid mit der Steilheit des Berges und der Hitze.

Mir geht es aber super. Das ist schon unheimlich: Gute Beine! Keine Blasen! Arscherl brummt: „Wenn das Arscherl brummt, ist das Herzerl g’sund.“ Von Tag zu Tag fitter! Bei aller Bescheidenheit und Demut fühle ich einen Hauch von Unsterblichkeit. Gerade weil ich weiß, es ist keine Selbstverständlichkeit.

Vorne taucht nun Saundrine im schwankenden Schneckengang auf. Schnell bin ich bei ihr! Hochrotes Gesicht! Sie schaut nicht wirklich froh, sie leidet sehr. Kurz verlangsame ich meinen Schritt, dann sagt sie: „Don’t wait for me!“. Dann gibt es heute also keine Gebetserhörung wie vor einer Woche. Ihren Stock hat sie übrigens auch nicht mehr.

Immer wieder ein Paar Pilger, die ich bisher nicht gesehen haben. Am Berg kommt man sich näher, oder man entfernt sich.

Die Französin mit der tiefen Stimme hat abgeschaltet und ist fokussiert auf das Schritthalten mit  dem vorgegeben Takt ihrer Nordic Walking Stöcke.

Langsam schleiche ich mich an Veronique heran. Ich tippe leicht auf ihre rechte Schulter, sie guckt nach rechts, und ich gehe dann links an ihr mit einem „Nice to see you again “ vorbei. Sie ist sichtlich über mein Erscheinen überrascht: „Are you jogging?“. „No, it is the mysterious force of your attraction!“, gebe ich zurück. Ich vermeide bewusst „Attractiveness“. Obwohl so unattraktiv ist sie beim zweiten Hinschauen nicht.

Das war es dann! Niemand mehr bis Livinhac! In gewißer Weise eine Abschiedstour! Bis auf Sara werde ich niemanden wiedersehen.

Von Golinhac bis Conques

(Golinhac/Conques, Montag, 26.06.2017)

Um halb sieben wache ich auf. Beim Blick aus dem Fenster sehe ich Veronique schon bereit zum Abmarsch. Das kann ich auch verstehen, denn es fängt an zu tröpfeln. In ihrem Rasenbett ist es wahrscheinlich zu feucht. Heute wieder in oranger Short und in langärmliger Jacke. Sie muss auf Saundrine warten, die wahrscheinlich zu spät aus den Federn gekommen ist. Wir haben noch nicht einmal angefangen zu frühstücken.

Um acht Uhr bin dann auch ich bereit. So früh war ich schon lange nicht mehr unterwegs.

Download GPX

Als ich Golinhac verlasse sehe ich Sara an einer Weggabelung von einer Rast aufbrechen. Sie hat die ersten Kilometer schon hinter sich.

Wir gehen gemeinsam. Unsere Geh-Rythmen sind auf der Ebene und leicht abwärts kompatibel. Wir unterhalten uns im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt. Weil das Leben nicht nur aus Steuererklärungen besteht. will sie den nächsten Wochen tatsächlich bis nach Campostella. Die Zeit vergeht und schon sind wir vor Espeyrac.

Sara macht gerne Fotos und Selfies. Und so komm auch ich zu einem Foto und einem Selfie.

In Espeyrac muss sie ein dringendes Geschäft erledigen. Dies beendet unsern kurzweiligen gemeinsamen Walk. Wir werden uns wieder sehen.

Obwohl es jetzt wieder bergauf geht erhöhe ich die Schlagzahl. Es macht Spaß schnell zu gehen. Ich habe überhaupt keine Beschwerden. Nur meldet der Körper immer eindringlicher, dass er mit Nahrung versorgt werden will. Diesen Gefallen tue ich bei einer kurzen Rast in Sergues.

Irgendwann danach erscheint dann ein oranger Fleck in der Ferne. Entweder handelt es sich dabei um einen Straßenarbeiter oder Veronique in ihren Shorts. Bei weiterem Annähern zeigt sich, es sind Veronique und Saundrine, die mehr in Tarnfarben unterwegs erst später erkennbar ist.

Schnell sind die Uneinholbaren eingeholt. Mir fehlen die französischen Vokabeln, ihnen die englischen. Die Konversation ist ziemlich verkrampft. Die beiden Damen unterhalten sich mehr und mehr in ihrer Muttersprache. Da mache ich mich aus den Staub. „I see YOU later!“ Heute habe ich schon sowieso schon zu viel geredet.

Conques ist nicht mehr weit. Ein letzter schmerzhafter Abstieg in steinigem Geröll und ich bin da. Das Sollziel der diesjährigen Jakobstour ist erreicht. Alles was jetzt noch kommt, ist Zugabe.

Conques ist zweifellos ein bezauberndes Städtchen. Das wirklich Phantastische ist aber das Schmuckstück über der Pforte zur Basilika. Hier verstehe ich auf eindrucksvolle Weise wie sich die Menschen im Mittelalter die Welt und insbesondere ihr Ende mit dem Jüngsten Tag vorstellten.

Da sitzt Jesus in der Mitte oben umgeben von Herrscharen und richtet über die Lebenden und die Toten darunter, die gerade aus den  Särgen geholt werden. Die Guten werden die Ewigkeit in Herrlichkeit verbringen, die Bösen dagegen sind für alle Zeiten drastischen  Strafmaßnahmen ausgesetzt. Wer wollte dar kein Guter sein?

Noch weiter unten sitzt der müde Wanderer ganz klein. Wird er ein Guter oder Böser? In jedem Fall bekommt er einen ersten Eindruck von der ewigen Herrlichkeit als ein Pater „House of the Rising Sun“ auf der großen Orgel spielt. Und ein Pater muss das ja wissen!