Von Chapell-St.Roch bis Aumont-Aurac

(Chapell-St.Roch/Aumont-Aurac, Mittwoch, 21.06.2017)

In der Nacht regnet es heftigst. Am Morgen ist der Himmel wieder blau. Es ist angenehm kühl. Der filzige Wiesenbelag hat das Wasser gierig aufgesaugt. Tau bedeckt die Gräser. Absolute Stille bis auf zwitschernde Vögel!

Der einzige Gast des Refugiums scheint schon weg zu sein. Auf jedenfall sucht er die Toilette nicht mehr auf. Vereinzelt tröpfeln Pilger vorbei, die die Nacht wahrscheinlich in Le Sauvage verbracht haben. Ich lasse mir Zeit, sehr viel Zeit! Notfalls kann ich bis Sonnenuntergang gehen.

Eigentlich will ich nur bis Les Estrets gehen. Rein planerisch sind die zwanzig Kilometer dann voll. Weil ich dort aber noch nicht zu müde bin, gehe ich dann doch noch bis Aumont-Aurac. Von der heutigen Starthöhe auf eine leichte, weil abfallende Etappe zu schließen, wäre ein tragischer Irrtum.

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Ich starte in noch frischer Höhenluft abwärts nach St.Albin-sur-Limagnole.

Nach kurzer Zeit der erste Stop wegen Steinchen in meinem Stiefel! Dann der zweite Stop! Dann noch einmal ein Stop! Der Regen der vergangenen Nacht hat diese aus dem mergeligen Wegbelag ausgespült. Beim Treten springen sie in die Luft und fallen mit einer gewißen Wahrscheinlichkeit genau zwischen Stiefelschaft und Socken, tauchen zur Sohle, nerven durch ständiges Picken und bilden eine Gefahr von Blasen. Mein Alptraum! Abhilfe schafft schließlich das Stülpen der Socken über den Stiefelschaft. Und zwischen Socken und Haut können die Plagegeister dann doch nicht eindringen.

So schaffe ich es mit einiger Verspätung, dann doch nach St.Albin. Eigentlich auch ein Kaff, das sich aber nach den letzten Tagen wie eine Rückkehr in die Zivilisation anfüllt.

Ich habe schon wieder Hunger und verzehre meine Sandwiches gleich auf einmal auf der Tribüne vor dem Kirchplatz, einem kurzweiligen Akkumulationpunkt für Pilger, die plötzlich aus dem Nichts auftauchen. Eau potable ist verfügbar. Da heißt es, sich selbst und seine Vorräte bis zum Überlaufen aufzufüllen. Prophylaktisch ziehe ich auch noch die Stiefel aus, um auch noch nicht gefühlte Sandkörner zu entfernen.

So braucht es nur noch die spirituelle Stärkung in der Kirche. Ich liebe französische Kirchen, weil sie im dunklen Inneren himmlisch kühl sind, und von all dem barocken Klamauk heimatlicher Gotteshäuser befreit die Wurzeln des Glaubens (wie es in meine Wenigkeit sieht) fokussieren.

Beim Eintreten sehe ich zum ersten Mal Saundrine beim Verlassen derselben. Noch weiß ich natürlich nicht, dass sie so heißt. Vielmehr denke ich: „Du arrogante Kuh!“, weil sie die erste Person seit Le Puy ist, die nicht grüßt.

Wahrscheinlich war es hier, dass sie Maria (siehe unten) um Hilfe auf der Etappe und einen guten Ausgang gebeten hat. Vielleicht war sie so vertieft, dass sie mich einfach nicht wahrgenommen hat.

Das zweite Mal sehe ich sie unter einer Herde von rastenden Wanderern an einer Trinkwasserstelle in Chabennes. Dort will sie auf Teufel komm raus wissen, wie weit es noch nach Aumont ist. Als sie diese nicht zur Zufriedenheit erhält, packt sie wütend ihren Rucksack und rennt los. Ob schon mit Stock oder ohne Stock, weiß ich nicht.

Rennen ist hier nicht ganz übertrieben. Denn sie marschiert wahrlich strammen Schrittes in ihrem auf der Via Podiensis einmaligen Kampfrock, so lange es eben ist. Geht es dagegen aufwärts, bleibt sie fast stehen wie überladene Lastwagen, die die Geislinger Steige oder den Aichelberg nur im Kriechgang auf der Standspur hochkommen.

So weitet und verkürzt sich der Abstand bis Les Estrets.

Eigentlich will ich dort aufhören. Aber im Gite d’Etape mobile unter dem örtlichen Friedhof gibt es jetzt Apfelschorle, eine Banane, und zwei Nektarinen, die in mir noch einmal den Tiger im Tank wecken. Nachdem die zwanzig Kilometer noch nicht voll sind, beschließe ich nach einer Stunde bis Aumont weiterzugehen.

Ich biege um eine Straßenecke. Dort an der Bar verbringt der Haufen Mitwanderer offensichtlich seine Mittagspause. Saundrine ist gerade im Aufbruch begriffen. Jetzt mit Stock! Schnell ist sie in ihrem Ebene-Trott und legt ein paar Meter zwischen uns.

Doch schon naht das Übel in Form eines saftigen Anstiegs. Schnell komme ich näher, und muss mitansehen wie sich ihr linker Wadenmuskel verformt wie Blech beim Biegen zu einer Dachrinne. Nocheinmal belastet sie den Fuß und zuckt mit Schmerz verzerrten Gesicht in sich zusammen. Aus den Erfahrungen meiner abgebrochen Fußballerkarriere weiß ich, da geht jetzt nicht mehr viel.

Wir stehen eine Weile. Dann bricht die anerzogene Prägung zur Kameradenhilfe aus meiner ehemaligen Soldatenzeit hervor. Da ist es eine Selbstverständlichkeit in einer solchen Situation auf Märschen das Gepäck des anderen zu übernehmen. Ich halte mich für fit genug, und biete ihr an, unsere Rucksäcke zu tauschen.

Das hat sie nicht erwartet. Zum ersten Mal sehe ich ein Lächeln, auf ihrem sonst eher versteinert wirkenden Gesicht. In meinem Rucksack ist nur eine Flasche Wasser. Als sie dessen relative Leichtigkeit spürt, kehrt sichtbar die Hoffnung zurück, es zu schaffen. Ihr Rucksack liegt gut auf meinen Schultern, sein Gewicht ist dann fast Nebensache.

Unterwegs überholen wir ein Pärchen mit einem offensichtlichen Alterunterschied. Der ältere Mann kriecht mehr als er geht, während die jüngere Frau in etwas größerer Entfernung geduldig wartet. Ich sage: „Mann mit junger Frau!“ Sie sagt: „Alter Mann mit Tochter!“ Ich sage nicht, dass der alte Mann vielleicht jünger ist als ich.

Irgendwann fragt sie mich auch mal nach meinem Namen. Josef assoziiert sie mit Maria (siehe oben), und es bricht es in gebrochenen Englisch sinngemäß heraus: „Am Morgen habe ich zu Maria gebetet, dass ich gut ankomme. Als ich zum bergab gehen eine Stütze brauchte, habe ich den Stock unter einem Strauch gefunden. Als ich am Berg nicht mehr weiter konnte, ist Josef gekommen.“

Es ist mir schon etwas peinlich, Hauptakteur in einem Wunder zu sein. Aber sie scheint schon sehr überzeugt.

Da gefällt mir schon besser, dass sie mich vor dem Abstieg zu einem Bier in Aumont einlädt.

Freilich wird daraus nichts, weil das Gite d’Etape mobile schon am Ortseingang wartet.

Von Saugues bis Chapell-St.Roch

(Saugues/Chapell-St.Roch, Dienstag, 20.06.2017)

Vom Campingplatz in Saugues breche ich auf zur Chapelle-St.Roch. Eigentlich sollte es ja bis nach St.Alban-sur-Limagnole gehen. Aber ich will keinesfalls mehr als 25 Kilometer laufen. Schließlich geht es auf das Dach der Via Podiensis mit über 1300 m.

Leider vergesse ich am Ziel meinen Track zu speichern, so dass es jetzt keine Karte gibt.

Es geht zunächst durch eine landwirtschaftlich geprägte Gegend. Die Bauern bringen ihr Heu ein.  Häufig treten an die Stelle der Äcker und Felder lichte Kiefernwäldern, die wenigstens für ein Bißchen Schatten sorgen.

In La Clauze werde ich auf einen Turm aufmerksam, von dem ich mir keine Vorstellung machen kann, was der hier soll.

Weiter geht es auf der D335. Mein Magen mahnt zur Nahrungsaufnahme. Ich setze mich ganz einfach unter einem Baum direkt an der Straße und genieße den Schatten. Die leicht geneigte Böschung erlaubt sogar ein bequemes Liegen. Bestimmt über eine Stunde halte ich mich dort auf. In der passiert genau ein Auto und ein Wanderpärchen. Wo sind die anderen?

Der Höhengewinn seit Saugues hält sich in Grenzen. Es dauert noch bis Chazeaux bis dann die letzten zweihundert Höhenmeter anstehen. Die kleine Differenz senkt die Temperatur angenehm, die Luft wird klarer. Der Gelbe Enzian macht sich auf den Almen breit. Erstaunlich wie sich ein paar Höhenmeter auswirken.

Mittlerweile verdunkeln mehr und mehr Regenwolken ab-und-zu angenehm die Sonne. Mit der Zeit wachsen sich diese immer zu höheren Gewittertürmen. Ein Unwetter mit Hagelschlag möchte ich gerade hier nicht erleben. Ich bin aber zuversichtlich, dass es bis dahin noch einige Zeit dauern wird.

Dann folgt der leichte Abstieg nach Le Sauvage, das die Tempelritter zum Schutze der Pilger errichteten. Heute ist dort eine Auberge. Es stehen auch einige Autos rum. Wie sind die in das Middle of Nowhere gekommen? Ich kann keine freie Zufahrt erkennen.

Zum Col d’Hospital mit der wundertätigen Quelle des heiligen Rochus ist es nicht mehr weit. Ich versäume es, mich an ihr zu laben.

In der Chapelle St.Roche bedanke ich mich im Anfall einer emotionalen Wallung bei einer höheren Instanz, dass es mir so gut geht. Im allgemeinen und speziell auf der Tour! Ich bin schon zufrieden, wenn alles so bleibt. Speziell keine Blasen!

Es steht das Gite d’Etape mobile zum Empfang bereit. Es gibt Makkaroni Bolognese mit Tomatensalat. Danach eine kurze Dusche mit dem warmen Wasser aus dem Wohnmobil. Der Rest des Tages erschöpft sich mit der Beobachtung des Geschehens vor der Kapelle, das sich hauptsächlich im Hin-und-Hergehen zwischen dem angebauten Refugium und der absetzten Toilette des einzigen Nutzers erschöpft. Gleichzeitig massiert meine Hospitalera die Beinmuskulatur mit dem neu entdeckten Wundermittel, überraschend wohlriechenden Pferdebalsam.