Von Espalion bis Golinhac

(Espalion/Golinhac, Sonntag, 25.06.2017)

Morgens geht es von St.Come zurück nach Espalion. Dort gibt es nach langer Zeit wieder einmal einen Supermarkt, der sogar am Sonntag geöffnet hat. Nachdem die Vorräte zur Zufriedenheit aufgefüllt sind, erfolgt der Start nach Golinhac.

Download GPX

An der Brücke dort läuft mir tatsächlich der Sprinter von gestern über den Weg. Er wird mich stadtauswärts überholen, um dann noch am Stadtrand einen Haken zu schlagen und sich auf den Boden niederzulassen. Von da an habe ich ihn nicht mehr gesehen.

Die Burg Calmont d’Olt zeugt von der großen Vergangenheit des Ortes.

Ein paar Kilometer weiter taucht Bessuéjouls mit seiner präromanischen Kirche auf. Ich spendiere auch dort wieder eine Kerze, wünsche meinen Lieben alles Gute und mir wiederum, dass alles so bleibt wie es ist.

Gleich dahinter werde ich erstmal wieder eine Rampe zunächst rauf und dann gleich wieder runter gejagt.

In Tredou an der Eglise St.Madeleine bedarf es einer längeren Auseinandersetzung mit dem Wasserhahn, um das begehrte Eau potable zum Laufen zu bringen.

Der Weg nach Verneres muss zur Erhöhung des Umsatzes an einer Bar vorbeiführen, und deshalb einen kleinen Umweg machen.

Dort gehe ich aber nicht hinein, sondern ich mache in einer kleinen Hütte am Ortsende Mittag.

Ich bin jetzt wieder im Lottal auf der D100. Meine Sicherheit gegenüber den Autos muss ich mir durch ein paar Höhenmeter auf einen dazu parallel verlaufenden Pfad erkaufen.

Ich überlege lange, ob ich über den Lot nach Estaing gehe. Letztenendes halten mich die Touristenmassen, die ich dort drüben sehe, davon ab.

Nach einer Lotkehre geht es brettl-eben für ein paar Kilometer an ihm entlang. Ein Abzweig führt in ein enges Seitental. Der einzige Weg um aus ihm herauszukommen wird nach oben im Erklimmen der dreihundert Meter höher gelegenen Talränder auf den nächsten vier Kilometern sein. Gott sei Dank liegt der schmale steinige Serpentinenpfad völlig im Schatten des Waldes.

Am Kulminationspunkt ist dann eine dieser Holzhüttentoiletten mit Aussicht aus Wasser. Dort nehme ich zum ersten Mal die rastende Sara aus Ravensburg war. „Warum machen wir das bloß?“, frage ich mehr rhetorisch. „Es bleibt immer was!“, schwäbelt sie. Sie weiß auch schon, wer ich bin: „Der Josef mit dem Campingbus.“, kichert sie wie ein Lachsack. Der kleine Rucksack hat mich verraten.

Nachdem üblichen Geplapper um die Fragen: „Wer ist wer?“und „Wer ist wo?“ brechen wir gemeinsam auf. Das aufgenommene Wasser wird reichen, um das Ziel lebend zu erreichen. Sara wird in einer Gite vor Golinhac übernachten und hat nun Angst, sie zu verpassen. Jedes  Gebäude ,an dem wir vorbeikommen, wird geprüft. Sogar ein Ziegenstall! Das dauert dann  doch zu lange, und wir verständigen uns darauf, dass ich allein weitergehe.

Vor Golinhac steht dann dieses alte Wegkreuz mit einer frischen Mooskrone, das ihm irgend jemand aufgesetzt hat. Aktion, die meiner Frau ähnlich schaut!

Dann erreicht der müde Wanderer den schön gelegenen Campingplatz auf der Höhe von Golinhac.

Viele andere haben sich diesen Platz ebenfalls zum Übernachten ausgesucht und tummeln sich jetzt im Swimmingpool. Ich bevorzuge eine kleine Flasche heute morgen im Supermarkt erworbenen kühlen Biers aus dem Campingvan-Kühlschrank und leere sie in einem Schluck. Kann es etwas schöneres geben, als ein kühles Bier die trockene Kehle runterlaufen zu lassen?

Veronique mit der orangen Short oder abwechselnd dem orangen Shirt, mit der Figur einer Marathonläuferin und ständig zum Aufbruch treibend, leistet sich das Gras auf dem Platz neben uns als Schlafstätte und den Hang als Rückenlehne. Normalerweise schläft sie auf freiem Feld. Sie hat kein Zelt, keinen Schlafsack, keine Matte. „Ich habe auch keine Angst vor Mäusen“,  sagt sie mir später einmal.

Veronique und Saundrine gehen jetzt offensichtlich gemeinsam. Saundrine hat beschlossen, meine Anwesenheit zu ignorieren.

Von Saint-Chély-d’Aubrac bis Espalion

(Saint-Chély-d’Aubrac/Espalion, Samstag, 24.06.2017)

Für meine Verhältnisse sehr früh breche ich nach Espalion aufGil sitzt nicht mehr am Kastanienbaum, sondern hat sein Lager in den Aufenthaltraum des Campingplatzes verlegt, von wo er nun an eine Wand gelehnt und eine Decke gehüllt bewegungslos auf die Welt schaut.

Download GPX

Die Dorfmitte von St.Chely wird aufgepepellt.Höchste Zeit!

Ein paar Meter weiter an der Brücke über den Boralde auf wenigen Quadratmeter ein Kleinod!

Am Friedhof vorbei geht es leicht ansteigend in den Wald bis L’Estrade. Ich treffe Mutter und Tochter aus Voralberg, die ich aufgrund des Dialekts für Schweizerinnen halte. Minutenlang beteuern sie wie glücklich und stolz sie sind, Österreicherinnen zu sein, und sie nie etwas anderes sein wollten.

In L’Estrade ist auf private Initiative ein Aire eingerichtet, wo sich der Wander versorgen kann. Herzlichst willkommen an jeder anderen Stelle ist es nach den paar Metern aber jetzt doch noch zu früh, eine Pause einzulegen. Prophylaktisch fülle ich mich nur mit Wasser auf bis es aus dem Hals schwappt.

Heute ist aber wirklich ein Supertag. Der Samstag fühlt sich wegen der tiefen Stille an wie ein Sonntag. Es ist warm, aber nicht heiß. Der Himmel ist noch bedeckt: Keine direkte Sonne, mein Lieblinswetter!

Die weniger Kilometer von gestern tun meinen Beinen gut. Ich bekomme gar Lust auf Joggen. Juhu! Ich werde von Tag zu Tag fitter.

Ein Wander nach dem anderen wird überholt. Bis auf einen! Der versucht auf Teufel komm raus, mir davon zu laufen. Soll er doch! Doch genau so schnell er gelaufen ist, schlägt er einen Haken, setzt sich hin und macht eine Pause. Das hätte er auch bequemer haben können! Morgen wird er übrigens das Gleiche machen.

Den nun folgenden Abstieg bewältige ich tatsächlich oft in leichten Trab verfallend. Die Idee dabei: wandle die potentielle Energie in kinetische Energie, statt sie durch Abfederung zu verschwenden und die Oberschenkel zu belasten.

Meinem Vorwärtsdrang wird durch Vroni und Thomas aus Stammham Einhalt geboten, die in der Talsohle eine Pause machen. Die beiden brechen morgens als erste auf und sind oft die letzten, die am Nachmittag am Zielort ankommen.

Nachdem üblichen Getratsche nehmen wir zunächst gemeinsam die Gegensteigung nach La Roziere in Angriff. Bald ist aber von den beiden nichts mehr zu sehen. Sie gehen ganz einfach den ihnen passenden Rhythmus.

Unten im Tal des Lot hebt sich schon St.Come d’Olt ab. Die gewundenen Kirchtürme und die engen winkligen Gassen darunter versetzen einen in die Welt von Hary Potter. Es fehlen nur die fliegenden Besen. Vor der Kirche treffe ich Roswitha, die mir bei der Rast von ihren Begegnungen und Erlebnissen in den letzten paar Stunden erzählt.

Über die Brücke geht es über den Lot schon auf den letzten Teil der Etappe nach Espalion. Daneben liegt ein schöner schattiger Campingplatz, zu dem wir später mit dem Van zurückkehren.

Ich folge der Ausschilderung des GR65, der mal wieder prompt vom Tal in die Höhe führt. Will man nicht zur Eglise de Perse, kann man sich den Aufstieg sparen.  Das tue ich nicht und komme trotzdem nicht dorthin, weil ich an einer Kreuzung mit dubioser Wegweisung die falsche Alternative wähle und zu früh ins Tal absteige. Das ist nicht nur wegen der paar hundert Höhenmeter extra ärgerlich, sondern insbesondere entgeht mir der schaurig schönen Ort, an dem der Heiligen Hilarius nach seiner Enthauptung durch die Sarazenen den Kopf unter den Arm nimmt, ihn an einer Quelle wäscht, und sich dann zu seiner Bestattung hinlegt.

Die Stellplätze in Espalion sagen uns nicht zu und wir kehren nach St.Come zurück. Auf der Straße dorthin begegnen uns die Pilgerkollegen, die so clever sind, nicht den GR65 zu nehmen.  Bei ihrem erbärmlichen Anblick wäre das auch nicht ratsam. Ich überlege kurz, sie alle in den Van zu setzen und sie zu ihrem Ziel zu transportieren. Der Stolz und die Ehre eines Pilgers lässt das aber nicht zu.

Von Nasbinals bis Saint-Chély-d’Aubrac

(Nasbinals/Saint-Chély-d’Aubrac, Freitag, 23.06.2017)

Die Nacht verbrachten wir diesmal einfach auf dem nahen Parkplatz in Mitten einiger anderer Campingvans. Es ist ein Phänomen: bei Übernachten auf freien Plätzen bilden sie instinktiv eine Art Schutzburg wie in archaischen Zeiten gegen das Eindringen wilder Tiere.

Unser Freund aus Neckarsulm, der, statt mit ihm zu fahren, sein Fahrrad meistens auf dem Jakobsweg schiebt, kommt leider zum Frühstück zu spät. Ohne Zelt hat der Low-Cost-Pilger die Nacht im Waschraum des  hiesigen Campingplatzes verbracht, und muss jetzt ins Dorf, um sich zu versorgen. So bin ich heute einmal nicht der zu letzt Aufbrechende.

Die heutige Etappe nach St.Chely verspricht angenehm kurz zu werden. Nur der finale Abstieg von Aubrac wird das  schmerzhaft das Platzen der Oberschenkel androhen.

Download GPX

Freilich geht es zunächst einmal aufwärts auf eine weite Alm. Kühe sind zwar nicht zu sehen, dafür aber sitzt Gil mehr schlafend als wach am Stamm einer alleinstehenden Eiche im Gras bewegungslos wie Faultiere sonst im Baum hängen. Ich habe ihm schon mehrmals gesehen und werde ihn noch mehrmals sehen, aber immer in der gleichen Haltung. Nie in Bewegung!

Die Höhe vor Aubrac ist eine Wetterscheide. Ist es diesseits des Passes noch wolkenlos, geht es jenseits durch eine Dunstschicht entlang der Zeichen  eines im Winter zum Skifahren benutzten Hanges hinab in das Kloster.

Seiner Mauern ähneln denen des Klosters im Film Namen der Rose!  Zur totalen Illusion fehlen nur noch die Inquisitoren. Was mag sich hier an diesem jetzt so abgelegenen Ort in alten Zeiten würdiges und unwürdiges abgespielt haben?

Der fantastische Sound eines Credo gesungen in französischer Sprache lockt mich in die Kirche. Die Teilnehmer eines Pfarrausflugs halten hier offensichtlich die obligatorische Messe. Französisch und Liturgie passen offensichtlich gut zusammen.

Leider muß ich diese Meinung schon beim nächsten  Lied revidieren: niemand kennt den Text richtig, einmal singt die linke Seite, dann die rechte, dann keine. Das Ende erlebe ich nicht mehr.

Da wird die Skulptur eines Aubrac-Kuh schon viel harmonischer auf dem Rastplatz davor.

Aubrac ist ein vielbesuchter Ausflugsort mit einigen Restaurants der gehobenen Klasse im kleinen aber feinen Zentrum. An einem Tisch sitzt Gil! Nicht ganz bewegungslos. Er ißt Suppe,und  führt stetig langsam den Löffel vom Teller zum Mund und nach einer kurzen Pause vom Mund zum Teller. Wahrscheinlich Bouillon vom Aubrac-Rind!

Wie dann ein Aubrac-Bulle aussieht, sehe ich beim Abstieg ins Tal. Wegen seiner Hörner und seiner schwarzen Flecken im Fell bezweifle ich aber seine Reinrassigkeit. Genetisch optimiert für mehr Marmorisierung und damit Geschmack im Lendensteak?

Um einen alten Vulkan und durch seine erkalteten Lavaströme steige ich steil ab nach St.Chely. Unten angekommen ist nun nicht nur der linke Kleine Zehen blau , sondern auch die beiden Großen.

Auf dem Campingplatz komme ich aus der Dusche. Dort sitzt Gil an einem Kastanienbaum gelehnt. Bewegungslos! Und er sitzt und sitzt über Stunden!

Auch ich sitze! Ich hänge in meinem Campingstuhl. Es gibt nichts schöneres als Sitzen, wenn man lange gegangen ist.

Von Aumont-Aurac bis Nasbinals

(Aumont-Aurac/Nasbinals, Donnerstag, 22.06.2017)

Von Aumont-Aurac haben wir nicht viel mitbekommen. Nach der gestrigen Ankunft geht es gleich auf den etwas außerhalb gelegenen Campingplatz. Wie üblich ist Personal nur zu bestimmten Zeiten zum Kassieren anwesend. Zum Öffnen der Schranke soll hier eine Telefonnummer angerufen werden. Bei einem leichten Druck von  unten auf den Balken öffnet sie sich aber doch wie durch Geisterhand. Wir verzichten auf den Anruf und das folgende Sprachgewirr und fahren auf den Campingplatz. Wenn sich einer aufregt dann „Nichts verstehen!“. Aber es wird sich keiner aufregen, da in Frankreich alles erlaubt ist, was nicht ausdrücklich verboten ist.

Während ich den Strom anschließe, fängt es zu schütten an. In wenigen Sekunden bin ich patschnass. Hagelkörner krachen auf das Dach. In wenigen Minuten steht der halbe Campingplatz unter Wasser. In leicht abgemilderter Form geht das einige Zeit so weiter. Platzregen im Campingvan ist sehr kurzweilig. Aber der Besuch in Aumont fällt flach.

Mittlerweile habe ich einen blauen linken Kleinzehennagel vom Druck beim Abwärtsgehen. Blaue Zehennägel sind für mich kein Problem. In den nächsten drei Monaten wird ein neuer den alten herausschieben, und an Weihnachten wird er vollständig  die Zehe zieren. Falls er nicht vorher wieder blau wird.

Bevor ich nach Nasbinals gehe, muss ich sie allerdings tapen, um den Nagel zu fixieren und unnötige Reizungen zu vermeiden.

Download GPX

Ich lasse mich im Zentrum von Aumont absetzen und gehe los. Nach Unterquerung der A75 nur noch Ackerbau und Viehzucht! Später nur noch Viehzucht!

Kurz vor Lasbros steht mitten in einer Kreuzung eine Kapelle. Ich spendiere zwei Euro für eine Opferkerze und wünsche mir, dass alles so bleibt wie es ist.

Die Kombination  älterer Mann/jüngere Frau von gestern rastet schon in der einzigen Bar in Lasbros. Dahinter  werde ich bis Rieutort d’Aubrac  die nächsten Kilometer niemanden mehr sehen. Und auf der Hochebene kann man sehr, sehr weit sehen.

Aber nur Rinder und kreisende Greifvögel (noch keine Geier)! Generell sieht man auf dem Jakobsweg mehr Rindviecher als Menschen! Und auch viele Greifvögel!

Eau Potable soll es in Finieyols geben. Ich habe deshalb bewusst nur eine Flasche Wasser mitgenommen. Die zwei einladenden Bars sind geschlossen. Trinkwasser wird zwar zum Spülen des öffentlichen Stehklosetts verwendet. Der Brunnen ist aber trocken. Den entsprechenden Anschluss abzuklemmen, ist mir dann doch zu aufwendig. Ich brauche aber Wasser, und so muss ich das Eau Non Potable riskieren.

Ich komme immer höher. Die Hinkelsteine häufen sich. Abgetragene Gebirge und verwitterte Vulkane! Wie alt muss dieser Landstrich hier sein!

Von ganz oben ist dann doch schon Rieutort d’Aubrac am Horizont sichtbar. Dort sollte der Van auf einem Campingplatz stehen. Das verleiht neue Kräfte.

In Rieutort d’Aubrac ist zwar kein Campingplatz. Dafür aber eine schattige Raststelle mit Trinkwasser. Grund genug für einen Volksauflauf! Und wieder stellt sich die Frage: Wo kommen die plötzlich alle her?

Um die Ecke steht der Van. Die Fahrerin ist in einer lebhaften Unterhaltung mit einer Gruppe von Wanderern. Man kennt sich!

Da ist der Thomas und die Vroni aus Stamham, die Mittags immer Stunden schlafen, weil die Vroni mehr Kalorien verbraucht als sie zuführen kann. Da ist Jens, der Gourmet, der französische Speisekarten entziffern kann, von Hamburg nach Toulouse umgezogen ist, und von dessen Stiefeln sich die Sohlen gelöst haben.

Und sie sehen jetzt zum ersten Mal den sagenhaften Josef mit dem Campingbus und dem kleinen Rucksack, den noch keiner gesehen hat, aber von dem alle wissen, dass es ihn geben muss. Ein Mythos ist gebrochen!

Aller Illusionen beraubt ziehen sie bald weiter. Und ich folge ihnen weniger später frisch aufgetankt nach Nasbinals in einem wirklich flotten Schritt. Wenn’s läuft, dann läuft’s.

In Nasbinals gehe ich erst einmal zum Ankommen in die schöne Kirche der Heiligen Maria. Ein Bißchen Besinnung! Dann geht es hinter die Kirche in eine Bar, in der schon meine Gattin bei einer Tasse Kaffee sitzt. Ich trinke aber keinen Kaffee, sondern ein kühles Bier aus einer Art Pokal. Allein der erste Schluck ist die Anstrengungen des ganzen Tages wert.

Dann taucht aus heiterem Himmel Saundrine auf und gibt das versprochene Bier aus. Nur sie hat keine Zeit und muss noch irgendetwas erledigen. Die Schnittmenge der gemeinsamen Sprachkenntnisse erlaubt nicht mehr als einander Vorbeigeplappere.

Dann tauchen Thomas und Vroni auf, denen nun ich ein Bier ausgebe oder vielleicht auch zwei …

… dann wird es langsam dunkel, und wir gehen zu unseren Schlafplätzen.

Von Chapell-St.Roch bis Aumont-Aurac

(Chapell-St.Roch/Aumont-Aurac, Mittwoch, 21.06.2017)

In der Nacht regnet es heftigst. Am Morgen ist der Himmel wieder blau. Es ist angenehm kühl. Der filzige Wiesenbelag hat das Wasser gierig aufgesaugt. Tau bedeckt die Gräser. Absolute Stille bis auf zwitschernde Vögel!

Der einzige Gast des Refugiums scheint schon weg zu sein. Auf jedenfall sucht er die Toilette nicht mehr auf. Vereinzelt tröpfeln Pilger vorbei, die die Nacht wahrscheinlich in Le Sauvage verbracht haben. Ich lasse mir Zeit, sehr viel Zeit! Notfalls kann ich bis Sonnenuntergang gehen.

Eigentlich will ich nur bis Les Estrets gehen. Rein planerisch sind die zwanzig Kilometer dann voll. Weil ich dort aber noch nicht zu müde bin, gehe ich dann doch noch bis Aumont-Aurac. Von der heutigen Starthöhe auf eine leichte, weil abfallende Etappe zu schließen, wäre ein tragischer Irrtum.

Download GPX

Ich starte in noch frischer Höhenluft abwärts nach St.Albin-sur-Limagnole.

Nach kurzer Zeit der erste Stop wegen Steinchen in meinem Stiefel! Dann der zweite Stop! Dann noch einmal ein Stop! Der Regen der vergangenen Nacht hat diese aus dem mergeligen Wegbelag ausgespült. Beim Treten springen sie in die Luft und fallen mit einer gewißen Wahrscheinlichkeit genau zwischen Stiefelschaft und Socken, tauchen zur Sohle, nerven durch ständiges Picken und bilden eine Gefahr von Blasen. Mein Alptraum! Abhilfe schafft schließlich das Stülpen der Socken über den Stiefelschaft. Und zwischen Socken und Haut können die Plagegeister dann doch nicht eindringen.

So schaffe ich es mit einiger Verspätung, dann doch nach St.Albin. Eigentlich auch ein Kaff, das sich aber nach den letzten Tagen wie eine Rückkehr in die Zivilisation anfüllt.

Ich habe schon wieder Hunger und verzehre meine Sandwiches gleich auf einmal auf der Tribüne vor dem Kirchplatz, einem kurzweiligen Akkumulationpunkt für Pilger, die plötzlich aus dem Nichts auftauchen. Eau potable ist verfügbar. Da heißt es, sich selbst und seine Vorräte bis zum Überlaufen aufzufüllen. Prophylaktisch ziehe ich auch noch die Stiefel aus, um auch noch nicht gefühlte Sandkörner zu entfernen.

So braucht es nur noch die spirituelle Stärkung in der Kirche. Ich liebe französische Kirchen, weil sie im dunklen Inneren himmlisch kühl sind, und von all dem barocken Klamauk heimatlicher Gotteshäuser befreit die Wurzeln des Glaubens (wie es in meine Wenigkeit sieht) fokussieren.

Beim Eintreten sehe ich zum ersten Mal Saundrine beim Verlassen derselben. Noch weiß ich natürlich nicht, dass sie so heißt. Vielmehr denke ich: „Du arrogante Kuh!“, weil sie die erste Person seit Le Puy ist, die nicht grüßt.

Wahrscheinlich war es hier, dass sie Maria (siehe unten) um Hilfe auf der Etappe und einen guten Ausgang gebeten hat. Vielleicht war sie so vertieft, dass sie mich einfach nicht wahrgenommen hat.

Das zweite Mal sehe ich sie unter einer Herde von rastenden Wanderern an einer Trinkwasserstelle in Chabennes. Dort will sie auf Teufel komm raus wissen, wie weit es noch nach Aumont ist. Als sie diese nicht zur Zufriedenheit erhält, packt sie wütend ihren Rucksack und rennt los. Ob schon mit Stock oder ohne Stock, weiß ich nicht.

Rennen ist hier nicht ganz übertrieben. Denn sie marschiert wahrlich strammen Schrittes in ihrem auf der Via Podiensis einmaligen Kampfrock, so lange es eben ist. Geht es dagegen aufwärts, bleibt sie fast stehen wie überladene Lastwagen, die die Geislinger Steige oder den Aichelberg nur im Kriechgang auf der Standspur hochkommen.

So weitet und verkürzt sich der Abstand bis Les Estrets.

Eigentlich will ich dort aufhören. Aber im Gite d’Etape mobile unter dem örtlichen Friedhof gibt es jetzt Apfelschorle, eine Banane, und zwei Nektarinen, die in mir noch einmal den Tiger im Tank wecken. Nachdem die zwanzig Kilometer noch nicht voll sind, beschließe ich nach einer Stunde bis Aumont weiterzugehen.

Ich biege um eine Straßenecke. Dort an der Bar verbringt der Haufen Mitwanderer offensichtlich seine Mittagspause. Saundrine ist gerade im Aufbruch begriffen. Jetzt mit Stock! Schnell ist sie in ihrem Ebene-Trott und legt ein paar Meter zwischen uns.

Doch schon naht das Übel in Form eines saftigen Anstiegs. Schnell komme ich näher, und muss mitansehen wie sich ihr linker Wadenmuskel verformt wie Blech beim Biegen zu einer Dachrinne. Nocheinmal belastet sie den Fuß und zuckt mit Schmerz verzerrten Gesicht in sich zusammen. Aus den Erfahrungen meiner abgebrochen Fußballerkarriere weiß ich, da geht jetzt nicht mehr viel.

Wir stehen eine Weile. Dann bricht die anerzogene Prägung zur Kameradenhilfe aus meiner ehemaligen Soldatenzeit hervor. Da ist es eine Selbstverständlichkeit in einer solchen Situation auf Märschen das Gepäck des anderen zu übernehmen. Ich halte mich für fit genug, und biete ihr an, unsere Rucksäcke zu tauschen.

Das hat sie nicht erwartet. Zum ersten Mal sehe ich ein Lächeln, auf ihrem sonst eher versteinert wirkenden Gesicht. In meinem Rucksack ist nur eine Flasche Wasser. Als sie dessen relative Leichtigkeit spürt, kehrt sichtbar die Hoffnung zurück, es zu schaffen. Ihr Rucksack liegt gut auf meinen Schultern, sein Gewicht ist dann fast Nebensache.

Unterwegs überholen wir ein Pärchen mit einem offensichtlichen Alterunterschied. Der ältere Mann kriecht mehr als er geht, während die jüngere Frau in etwas größerer Entfernung geduldig wartet. Ich sage: „Mann mit junger Frau!“ Sie sagt: „Alter Mann mit Tochter!“ Ich sage nicht, dass der alte Mann vielleicht jünger ist als ich.

Irgendwann fragt sie mich auch mal nach meinem Namen. Josef assoziiert sie mit Maria (siehe oben), und es bricht es in gebrochenen Englisch sinngemäß heraus: „Am Morgen habe ich zu Maria gebetet, dass ich gut ankomme. Als ich zum bergab gehen eine Stütze brauchte, habe ich den Stock unter einem Strauch gefunden. Als ich am Berg nicht mehr weiter konnte, ist Josef gekommen.“

Es ist mir schon etwas peinlich, Hauptakteur in einem Wunder zu sein. Aber sie scheint schon sehr überzeugt.

Da gefällt mir schon besser, dass sie mich vor dem Abstieg zu einem Bier in Aumont einlädt.

Freilich wird daraus nichts, weil das Gite d’Etape mobile schon am Ortseingang wartet.