Von Lungern bis Iseltwald

(Lungern/Iseltwald, Mitwoch, 13.06.2012)

Am Dienstagmorgen schaue ich beim Frühstücken im Haus St.Josef aus den großen Fenstern des Speisesaal, sehe den ohne Pause vom Himmel fallenden großen Wassertropfen zu, erinnere mich an die Wettervorhersage und beschließe spontan, den Tag im Trockenen meiner Unterkunft zu verbringen.

Am Mittwochmorgen wache ich auf und höre keinen Regen prasseln. Die Wolken sind immer noch präsent, hängen aber nicht mehr so tief. Das Wetter passt zumindest für die nächsten paar Stunden.

Allerdings ist über Nacht aus welchen Gründen auch immer mein linker Knöchel angeschwollen. Und das nach einem Ruhetag! Tatsächlich hinke ich auch etwas. Aber wenn die Muskeln und Sehnen warm gelaufen sind, wird sich das geben. Nichts steht der Tour über den Brünigpass nach Iseltwald entgegen.

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Die Niederschläge der vergangenen Tage lassen auch in Lungern überall die Wasserfälle sprießen. Lungern machte schon ganz andere Erfahrungen. So wurde schon einmal die Kirche und der Friedhof weggespült. Man sieht schon, dass die Hänge schieben. Ich würde mein Haus an manche Stellen eher nicht bauen.

Der Weg zum Brünig verläuft nicht zu steil zunächst parallel zur Eisenbahn. Ich kann meine Füße gut eingehen. Das Zwicken im linken Knöchel ist fast weg.

Später zweigt der Weg ab und erlaubt noch manchen lohnenswerten Blick zurück.

Die Eiszeitgletscher haben das Gebiet hier ausgehobelt und glatt geschliffen.

Der Brünigpass ist erreicht und prompt regnet es auf der anderen Seite. Zwar nur kurz! Aber ich muss durch eine Wiese und bin wieder einmal patschnass.

Auf steilem Weg geht es abwärts nach Brienz ständig begleitet vom Lärm des Übungsbetriebes der Schweizer Luftstreitkräfte, die hier mit ihren F18 rumspielen. Für mich eine schöne Abwechslung!

Der offizielle Jakobsweg führt jetzt offensichtlich über die Westseite. Ich gehe aber auf der Ostseite des Brienzer See bis Iseltwald, weil ich dort ein Zimmer gebucht habe.

Allen Ernstes habe ich in Erwägung gezogen im Stroh zu schlafen. Was ich dann aber sehe, ist eher Schlafen im Scheiß. Im Stall, wo die Kühe normalerweise stehen und mit dem Stoffwechsel beschäftigt sind, ist das Stroh aufgeschüttet, auf dem der Wanderer sein müdes Haupt betten soll. Vor der Wand mit den alten Kotspritzern der letzten Jahre steht ein Bierzelttisch, an dem er am nächsten Morgen sein Frühstück einnehmen kann. Sogar Senf steht in einer Plastikflasche bereit!

Ich bin nun doch über ein reguläres Bett froh. Was ich jetzt nicht weiß, soll es auf absehbare Zeit das letzte in der Schweiz sein.

Hier steht der Wanderer weniger in Schönheit aber noch in voller Pracht und vollem Stolz vor dem Brienzer See.

24 Stunden später um etwa diesselbe Zeit sitzt er schon in einem ICE in rasender Fahrt von Mannheim nach München. In der Nacht hat sich sein linker Knöchel mit starken Schmerzen und Schwellungen unnachgiebig wieder gemeldet. Am folgenden Morgen kann er sich nur mit Müh und Not von seiner Schlafstatt in das schweizerische Postauto und von Interlaken über diverse Bahnsteige und Schienen nach Hause zu seiner lieben Frau retten.

Wieder 24 Stunden später, während er diese Zeilen schreibt mit senkrecht nach oben gestreckten linken Bein auf dem Rücken liegend in der einzig ertragbaren Haltung wartet er auf den Hausarzt, der ihm hoffentlich alles erklärt.

Von Flüeli bis Lungern

(Flüeli/Lungern, Montag, 11.06.2012)

Als ich mich von Flüeli nach Lungern auf den Weg mache gießt es natürlich wieder. Genauso kann man sich aber darauf lassen, dass der Regen gegen Mitte des Vormittags aufhört. Mich stört das auch nun nicht mehr weiter, denn mein Drei-Euro-Regenschirm wird so getragen, dass er auf dem hochgepackten Rucksack aufliegt, und ich nur den Finger in die Schlaufe seines Knaufs stecken muss, um ihn mit leichtem Zug zu stabilisieren. So wird weder mein Gepäck noch ich nass.

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Zur Abwechslung starte ich heute nicht mit einem Aufstieg, sondern mit einem Abstieg. Wie immer folgt der Weg dem Betrag des größtmöglichen Gradienten zum Sarner See nach Sachseln. Aber mein Gehwerk hat sich offensichtlich gut an die Belastungen angepasst.

Da offensichtlich eine Menge davon in Flüeli übernachteten, bietet sich immer wieder die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch mit anderen Pilgern. Die horrenden Preise in der Gastronomie werden allgemein beklagt.

Dann heißt es zwischen Sachseln und Giswil einen Blick zurückwerfen, und schon ist der Sarnener See Geschichte.

In Giswil finde ich tatsächlich ein Lokal, dass nicht nur geöffnet hat, sondern das auch noch am Montag. Und dazu gibt es ein anständiges Drei-Gänge-Menü zu einem anständigen Preis.

So gestärkt fällt der Aufstieg zum Lungerer See leichter. Weil es gut läuft, nehme ich mir für heute auch noch den Brünigpass vor.

Doch schon in Bürgelen ändert sich die Situation wieder. Irgendetwas in meinem Gedärm fordert kompromisslos Auslass. Dem gerecht zu werden, ist angesichts der unbewaldeten, unbebuschten, gut einsehbaren Steilhänge rechts zum Berg und links zum See fast unmöglich. Da heißt es Mut zum Risiko in der sauberen Schweiz!

Zur Vermeidung von unangenehmen Seiteneffekten wie einem Wolf beschließe ich es für heute bei Lungern zu belassen.

Ich suche das Haus St.Josef auf. Und ich fühle mich auf Anhieb wohl in dem Belle-Epoque-Bau. Dazu nette Leute und für jedes Budget ein Angebot! Und ein funktionierendes und kostenloses WLAN! Der Tip!

Von Stans bis Flüeli

(Stans/Flüeli, Sonntag, 10.06.2012)

Am Sonntag weckt mich noch während der Morgendämmerung ein lautes Piepsen aus dem Tiefschlaf in meinem Hundert-Franken-Hotel. Zunächst tippe ich auf mein Handy und verdächtige den Schweizer Provider, eine neue Sounddatei aufgespielt zu haben. Aber natürlich nimmt die Bahn ihren Betrieb auf, und das Geräusch stammt von einem sich schließenden Übergang unmittelbar unter meinem Zimmerfenster. Das stand natürlich nicht auf der Webpage des Hotels.

Und weil ich schon wach bin, versuche ich das Prasseln der Regentropfen nicht zu hören. Aber es ist zweifellos da.

Wie schon gestern stoppen aber die Niederschläge mit dem Aufbruch nach Ranft und Flüeli. Und tatsächlich sollte es doch ein schöner Tag werden.

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Nach Stans gilt es natürlich erst einmal wieder ein paar Höhenmeter zu gewinnen. Doch solange ich nicht in die Wolken gelange, ist das erst einmal ok. Außerdem scheint der ausgeschilderte Jakobsweg nicht jede vorhandene Bergspitze im Gegensatz zu meiner Planung einbeziehen zu wollen. Das verspricht eine vergleichsweise leichte Etappe zu werden.

Offensichtlich bin ich nicht der einzige auf dem Weg Finis Terre. Auch wenn es dann nicht mehr weiter geht.

Noch einmal ein Blick zurück nach Stans. Und dann heißt es Abschied nehmen vom Vierwaldstätter See.

Gibt es eine Ortschaft mit Namen St.Jakob, so muss der Jakobsweg natürlich hindurchführen. Hinweise auf den Namensgeber finde ich nicht. Dafür ist aber die Gestaltung von Holzstößen bemerkenswert. Was bleibt ist die Illusion, sich auf alten Pfaden zu bewegen.

Obwohl erst Mittag stelle ich mit Blick auf mein Navigationsgerät fest,es ist nicht mehr weit nach Flüeli. Inzwischen kommt die Sonne durch, und ich beschließe eine ausgiebige Siesta auf einer Bank am Waldrand. Ein kurzes Schläfchen, und ich fühle mich wie neu geboren. „Erholung statt Kilometer“, lautet die Devise jetzt.

Auf sanften Bergrücken mit ersten Ausblicken auf den Sarner See geht es weiter bis der Weg plötzlich steil in eine Schlucht abfällt. Hier ist Ranft, wo der Schweizer Nationalheilge Bruder Klaus im fortgeschrittenen Alter als Eremit hauste.

Noch einmal geht es kurz steil bergauf nach Flüeli. Eigentlich wollte ich ja heute Schlafen im Stroh machen. Da ich die entsprechende Örtlichkeit hätte erst suchen müssen und die haarstäubenden Schilderungen eines Pilgerkollegen über Übernachtungen in Massenlagern, lassen mich dann doch wieder ein Hotel aufsuchen.

Was ich nicht wusste war, dass dort auch eine Gruppe spätpubertärer Amerikaner auf dem Trip Europa-in-fünf-Tagen ankommen und über die mangelnden Shoppingmöglichkeiten in Flüeli frustriert sein ist. Was ich nicht wusste war, dass ihr Fahrer den Motor seines Busses exakt um sechs Uhr morgens unter meinem Fenster starten würde.

Von Ingenbohl bis Stans

(Ingenbohl/Stans, Samstag, 09.06.2012)

Als ich am Samstagmorgen im Mutter Theresa zum Frühstück auftauche, wartet die Schwester schon leicht bekümmert: Alle anderen Gäste sind schon aufgebrochen. Doch bald wird sie auch mich aus dem Haus haben!

Heute soll es auf der Südseite des Vierwaldstättersees von Treib nach Stans gehen. Dazu muss ich die Fähre von Brunnen nach Treib benutzen. Der rote Faden von meinem Geburtsort zum Ende der Welt wird daher an dieser Stelle unterbrochen: ich konnte mich nicht überwinden, sechzig Kilometer Umweg um den Urner See in Kauf zu nehmen. Auch konnte ich mich nicht dazu durchringen, den See zu durchschwimmen.

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Das Nieseln auf dem Weg zur Brunnener Fähranlegestelle und die tief hängenden Wolken über dem See lassen nichts Gutes erahnen. Doch sollte es zumindest für den Nachmittag besser werden. Ja, ich bekam sogar einen leichten Sonnenbrand auf den Armen.

Das war auch bei der Ankunft in Treib noch nicht abzusehen. Die wild romantische Schönheit wirkt da auf mich nicht gerade Stimmung fördernd. Der Mensch scheint doch ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Trockenheit zu haben.

Es geht bergauf nach Seelisberg. Irgendwo auf einer Wiese namens Rütli in der Nähe sollen die Urschweizer den gleichnamigen Schwur gesprochen haben wie aus Schillers Wilhelm Tell bekannt. Ich will sein ein einzig Volk von Brüdern. Mir reicht, wenn es zu regnen aufhört.

Was treibt einen Menschen dazu, auf einen Berg zu steigen? Dabei kann es in der Schweiz so bequem sein. Nahezu überall fährt eine Bahn hoch.

Natürlich kann man nicht solche Ausblicke genießen wie vom Pfad in der Felswand über Beckenried. Vor dem Genuss steht allerdings ein gewißer Grad an Schwindelfreiheit. Sonst bewirken einige exponierte Stellen gegenteilige Gefühle. Die angebrachten Sicherungen sind teilweise nicht mehr sehr vertrauenswürdig.

Der Abstieg von Emmeten nach Beckenried in der direkten Fallline parallel zu einem Sturzbach ist natürlich wieder eine Tortur.

Ab Beckenried wird es dann plötzlich warm. Und das Stück direkt am See entlang wird zu einer reinen Genusstour. Ach wie schön, dass es warm, trocken und eben ist!

Vor Stans geht es im zivilisierten Rahmen dann nocheinmal bergauf und bergab. Die Ausblicke lassen jedoch Schweiz-Postkarten-Feeling aufkommen.

Dann ist Stans erreicht.

Von Einsiedeln bis Ingenbohl

(Einsiedeln/Ingenbohl, Freitag, 08.06.2012)

Kurz nach neun Uhr komme ich am Freitagmorgen wieder am Einsiedelner Bahnhof an für den nächsten Teilabschnitt zum Finis Terre mit dem Ziel Fribourg. Eine abenteuerliche Anreise von München über Ulm, der Schwäbischen Eisenbahn nach Friedrichhafen, und dem Schiff über den Bodensee nach Romanshorn liegt bereits hinter mir. Eine ziemlich schwere Etappe nach Ingenbohl über den Hagenegg mit 1455 Metern immerhin der höchste Punkt der Schweizer Jakobswege habe ich noch vor mir.

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Der Wettergott scheint noch einmal ein Erbarmen zu haben. So hört es nach Verlassen von Einsiedeln zum Regnen auf. Dafür fängt es beim Kloster Au aus allen Kübeln zu schütten an. Und bis zur Ankunft am Abend in Ingenbohl soll es nicht mehr aufhören.

Bis Alpthal klappt es ganz gut unter dem Regenschirm. Doch beim Aufstieg zum Hagenegg in der direkten Falllinie parallel zu einem herabstürzenden Bach kann ich mir diesen Luxus nicht mehr leisten. Aber es ist sowieso egal, ob ich vom Regen oder vom Schweiß nass bin.

Dann steht auch noch eine Überquerung des Gewässers an. Ansonsten ein Rinnsal ist er jetzt kniehoch angeschwollen. Und ich muss dadurch ohne den Grund mit den Steinen zu sehen und einem schweren Rucksack auf dem Buckel! Ich sehe mich schon in der vertikalen Lage. Meine Stiefel geben mir aber einen guten Halt und, obwohl unter Wasser, bleiben sie innen trocken. Das Produkt hält, was die Werbung verspricht Trotzdem ist mir das immer noch ein Rätsel.

Bis zum Hagenegg geht es in einem Nebelband. Obwohl die Mythen sich in unmittelbarer Nähe befinden müssten, ist nichts von ihnen zu sehen. Erst bei einer kurzen Pause klart es auf, und die Mythenwand liegt unmittelbar vor mir. Welche Ausblicke sind mir entgangen?

Kann man den Aufstieg noch als sportliche Herausforderung ansehen, ist der Abstieg mit 1000 Metern Differenz (!) nach Schwyz in einem als Weg umfunktionierten Bachbett eine einzige Schinderei. Die Schönheiten des Ortes sind mir daraufhin ziemlich Wurst. Einzig ein Supermarkt mit Futter weckt mein Aufmerksamkeit.

Erschöpft gelange ich zu meiner heutigen Bleibe,dem Gästehaus Mutter Theresa des Klosters Ingenbohl. Wer hätte das gedacht, dass sich eine Schwester einmal um mein Nachtlager kümmert? Recht herzlichen Dank!