Von Jongieux bis St Maurice de Rotherens

(Jongieux/St-Maurice-de-Rotherens, Donnerstag, 07.05.2015)

Pünktlich um sechs Uhr schmeißt der Bauer seinen Traktor an und beginnt auf seinem Weinacker gegenüber unserem Schlafplatz mit Giftspritzen. Offensichtlich ist der Savoy kein Bio-Wein. Allein schon vom Hinsehen bekomme ich einen Hustenfall. Kurz überlege ich, ob wir nicht flüchten sollen. Aber der Winzer scheint sich von uns wegzuarbeiten. Gott sei Dank habe ich einen Grund gefunden, noch in meinem Bett zu bleiben.

Zeit genug für meine Sohlen, Blasen zu melden.

Ich mache es mir auf einem Sitz bequem. Das bewährte Operationsbesteck in Form einer Sicherheitsnadel liegt bereit. Mit einigen Verrenkungen gelingt eine Sicht auf die Sohlen. Am rechten Fuß schaut es ganz gut aus: nach dem Aufstechen wird sich die Haut wieder anlegen, Pflaster drauf, und alles ist gut. Am linken Fuß schaut es nicht mehr so gut aus: eine Blase weitet sich über den ganzen Zehenballen über einer anderen. Es ist ein Genuss, beim Aufstechen das Wasser in einer hohen Fontaine spritzen zu sehen. Was überbleibt ist etwas runzliges, das sich beim Gehen immer schön hin und her verschieben wird. Darüberhinaus sind auch die zwei kleinen Zehen befallen. Bei einer ist sogar schon die Oberhaut weggerißen und die Unterhaut sichtbar. Das wird bei Kontakt brennen. Als Wehrpflichtiger bei der Bundeswehr der Paradefall für vierzehn Tage Innendienst!

Mit Blasenpflaster und handwerklichen Geschick kriegt das meine Frau schon in den Griff. Es wird Zeit, dass sie endlich aus den Federn kommt und alles abklebt und stabilisiert. Nach einer Nachoperation zum während des Frühstücks wieder angesammelten Blasenwasser gelingt dies aus. Zumindest habe ich beim Auftreten keine Schmerzen.

Dann starte ich nach Saint-Maurice-de-Rotherens. Der steile Talabstieg gleich zu Beginn und die dabei auftretenden Scherrkräfte sind natürlich für den Pflasterhalt nicht von Vorteil.

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Über Jongieux-le-Haute geht es im schrägen Morgenlicht durch die Weinberge zur Chapelle Saint Romain. Über die Skulpturen kann man sich streiten …

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… der Ausblick hinter der Kapelle über das Rhonetal ist in der Tat nur eines: einmalig.

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Dort muss ich nun hinunter. Es ist rutschig: immer die Gefahr plötzlich mit dem Allerwertesten auf einem spitzen Stein zu landen! Es ist steil: ständig die Knie in den Kehren verdrehen! Die nassfeuchte Kühle unter dem Laub lässt mich nicht auf Touren kommen. Außerdem habe ich schon wieder Steine in meinen Schuhen. Körper und Kopf habe keinen Bock. Morgen mache ich Pause!

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Unten in der Ebene geht es der Rhone entlang. Pfützen, tiefer Morast und verdreckte Brennnessel hellen meine Stimmung nicht auf. Ich will Sonne, Licht, Rosen und den Duft von Flieder.

Ich bin hungrig und müde. Ich will essen und schlafen. Aber Yenne ist noch weit und noch nicht einmal ein Viertel des heutigen Pensums liegt hinter mir.

Dort ein Wunder: eine Bank umrundet von gepflegten Grün steht auf dem trockenem Pflaster eines ruhigen Platzes im warmen Sonnenlicht! Fliederduft! Schuhe runter! Brotzeit raus! Der richtige Platz für die Mittagspause!

Eine frühlingshaft bekleidete jüngere Französin kommt aus einer Gasse, schaut sich kurz um, setzt sich nach Zurechtrücken ihres Röckchens die langen Beine überschlagend auf eine kniehohe Mauer mir schräg gegenüber! Olala, ich vergesse fast das Kauen.

Eine gewiße Spannung liegt für kurze Zeit in der Luft, dann taucht eine weitere Frau auf nicht weniger ansehnlich und plaziert sich in einem gewißen Abstand neben sie. Was ist denn hier los?

Ich stehe durchaus unter Beobachtung als eine Mutter schon wieder schwanger mit zwei kleinen Kinder auftaucht, diese neben mich auf die Bank setzt und sich freundlich lachend, direkt vor mich stellt. Wo bin ich denn hier gelandet?

Genau das ist die Frage! Dezent drehe ich den Kopf und bemerke ein Gebäude hinter mir, vor dem die blaue Europaflagge mit den gelben Sternen und die französische Trikolore wehen. Als noch mehr Personen mit dem Blick dorthin gerichtet stehen bleiben, dämmert langsam, dass ich hier wohl vor einem Kindergarten sitze. Der ganze Auftrieb dient wohl dem Abholen der Kleinen. Bevor diese herauskommen und unter lautem Gejohle mit den Fingern auf mich zeigen mache ich mich schön langsam aus dem Staub bzw auf den Berg.

Beim Studieren einer Infotafel wird mir erst vor Ort bewusst, dass ich über den Mont Tournier soll. Hätte ich das vorher gewusst, was ich zweifellos hätte können, wäre schon heute der Pausentag. Aber wie einer sagte: „Der Jakobsweg ist wie eine Wundertüte: hinter jeder Ecke eine Überraschung“.

Den initialen Anstieg auf den großen Felsen nehme ich gelassen. Anstiege suggerieren, man hat etwas erreicht.

Trotzdem bin ich oben nicht offen für die Ausblicke auf dem Weg. Schon genug geblickt! Ich habe keine Lust auf die Aussichtsfelsen, die ein paar Meter vom Hauptweg abliegen. Schon wieder ein Umweg!

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Trotzdem bin ich oben nicht offen für die neue, nun mehr mediterrane Flora! Immerhin setzt der Ginster ein paar gelbe Farbpunkte ins Grün!

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So macht das keinen Sinn! Es kann nicht sein, eine so schöne Tour zu laufen, nur das sie gelaufen ist! Statt auf das GPS zu schauen und zu sagen: „Was? Erst soviel gegangen!“ werde ich sagen: „Oh! Schon soweit!“. Ich habe alle Zeit der Welt.

Den Abzweig zum nächsten Aussichtfelsen lasse ich dann nicht rechts liegen. Ich nehme die hundert Meter Umweg in Kauf! Ich habe schon lange nicht mehr soviel von einem Ort aus gehen wie von dort! Zudem ist dort eine Bank! Mit dem Rucksack als Kopfkissen lege mich dorthin. Der Strohhut dunkelt mein Gesicht ab und ich schlafe sofort ein. Erst ein leichter Sonnenbrand am Arm lässt mich wieder aufwachen.

Die Strecke bis kurz vor den Mont Tournier ist wellig auf hohem Niveau. Der Aufstieg zu einer Art Pass braucht dann schon noch die letzten verbliebenen Körner. Psychisch ist das verkraftbar, weil Saint Maurice leicht abfallend ohne steilen Abstieg erreicht wird.

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Zehn Minuten zum Gipfel sind mir dann doch zuviel. Freilich komme ich nach zwanzig Minuten wieder zu einem Schild mit zehn Minuten zum Gipfel. Daraus lässt sich folgern, dass die Route auch über den Gipfel ohne Umweg hätte führen können. Der geneigte Leser möge dies selbst als kartographische Übungsaufgabe nachvollziehen.

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Der merkwürdige Steinkopf ist in jedem Fall sehenswert. Es ist nicht bekannt, ob Druiden ihn als Altar bei keltischen Opferritualen benutzten. Allerdings soll er zur Pionierzeit der drahtlosen Telegrafie Aufhängepunkt einer Langwellenantenne über den Mont Tournier gewesen sein. Der geneigte Leser möge dies im Museum in Saint-Maurice überprüfen.

Am Ortseingang von Maurice erwartet mich pünktlich meine Frau. Sie hat es nicht nur geschafft, den Ort zu finden, sondern die Gite d’Etape Mobile durch die engen Straßen vor die Mairie zu chauffieren. Der Bürgermeister hat nichts dagegen. In der Heimat ein Skandal!

Dazu hat sie ein halbes Hähnchen mitgebracht. Mittlerweile mehr kalt als warm, genieße ich es wie ich noch nie ein Hähnchen genossen habe! Das erste Fleisch seit Ostern!

Die Kraft schießt in meine Glieder! Morgen gehe ich weiter.